Flüchtlinge und ihr Heimweh

Heimweh (Foto: Ruedi Bertschi)
Flüchtlinge haben oft Heimweh. Die einen überwinden das Heimweh bald mal und wagen neues im neuen Land. Andere aber leiden unter dem Heimweh und werden dabei krank. Daraus ist im Hören auf Psalm 137 ein Predigt entstanden.
Ruedi Bertschi,
Flüchtlings-Gottesdienst vom 22. Juni 2025
Predigt zu Psalm 137: An den Strömen Babels…



Liebe Gemeinde, liebe Gäste

Das Buch der Psalmen ist weit mehr als nur ein Lob- und Anbetungsbuch. Sowie die Bibel weit mehr ist als ein Buch der Gesetze und der Ordnungen. Für die Menschen, die in der Bibel vorkommen, gibt es auch nicht nur Glück und Geborgenheit, Freude und Wohlstand. Auch dann nicht, wenn sie ganz auf Gott vertraut haben und mit vollem Herzen versucht haben, nach seinen Ordnungen zu leben.

Wir feiern heute den Flüchtlingssonntag 2025 und haben unter uns einen Flüchtlingschor mit einer geflüchteten Dirigentin namens Anastasia, zu deutsch «Auferstehung». Ob sie aber als Flüchtling bei uns bereits zu neuem Leben erwacht ist, oder ob sie manchmal einfach nur weint. Die meisten von den Flüchtlingen aus der Ukraine, aber auch aus Syrien, aus Eritrea, aus der Türkei, aus dem Tibet usw. dachten, dass die Sache nach ein paar Wochen oder höchstens einigen Monaten vorbei ist, und dann geht es wieder nach Hause in die vertrauen Häuser, in die bekannten Dörfer und Städte zu den lange nicht mehr gesehenen Freunden und Familienangehörigen.

Brigitte Fischer hat uns den Psalm 137 gelesen: An den Strömen Babels, da sassen wir und weinten… Die Elite aus Israel war in den Jahren 597 und 586 v.Chr. aus ihrem angestammten Gebiet in den Irak deportiert worden. Distanz:1000km - zu Fuss laut, Google Maps eine Wanderung von 245 Stunden – 1000km bei einem Schnitt von 4km pro Stunde, das macht dann fast auf den Punkt 245 Stunden. Erschöpft und entwurzelt angekommen ist es den Verschleppten verboten, nach Hause zurückzukehren. Sie müssen an den Strömen Babels aushalten. Sie müssen dort in der Fremde säen, jäten und ernten. Sie müssen dort weben, stricken und waschen; Häuser bauen und Häuser erneuern, Brunnen graben und Brunnen unterhalten. - Eine Afroamerikanische Popgruppe hat vor etwa 50 Jahren den Psalm 137 auf ihre Weise vertont und in die damaligen Hitparaden gebracht. Es ist die Geschichte der deportierten Juden. Es ist aber auch die Geschichte ihrer Ahnen, die einst aus Afrika auf nimmer Wiedersehen nach Amerika verschleppt worden waren, und es ist auch die Geschichte von vielen, vielen Flüchtlingen heute. Lasst uns mal das Lied hören…

«An den Strömen Babels, da sassen wir und weinten…» Flüchtlinge sitzen am Anfang viel herum. Sie sind nicht mehr in ihrer Heimat. Sie sind aber auch noch nicht im neuen Land integriert. Sie sitzen da und nicht wenige weinen, vor allem Frauen und Kinder. Wenn wir heute Frauen und Männer unter uns haben, die wieder singen, dann ist das schon mal ein sehr, sehr gutes Zeichen. Dann ist da was gegangen. Denn die Deportierten aus Israel aus Psalm 137 sie waren noch nicht so weit. «An den Strömen Babels, da sassen wir und weinten, als wir an Zion dachten. Unsere Leiern hängten wir an die Weiden im Land. 3 Denn dort verlangten, die uns gefangen hielten, Lieder von uns, und die uns quälten, Freudengesänge: Singt uns Zionslieder. 4 Wie könnten wir Lieder des HERRN singen auf fremdem Boden.» Wichtig ist, dass wir als Einheimische wissen, oder wenigstens ahnen, was da in den Geflüchteten so vor sich geht. Die einen, sie singen gerne ihre Lieder. Die andern können oder wollen nicht oder noch nicht oder nicht mehr. Die einen kochen gerne für uns ihre Speisen. Die andere sagen, wir wollen nicht immer ukrainisch, eritreisch, syrisch kochen, sondern wir wollen so kochen und essen wie ihr. Da gilt es, gut hinzuhören und auch etwas sensibel zu sein.

In diesem Psalm 137 spüren wir etwas vom Heimweh der Juden. All diejenigen unter uns, die über längere Zeit im Ausland waren oder auch nur in einer andern Sprachregion waren, die wissen, wovon der Psalm handelt: Heimweh! - Irgendetwas ist da im Bauch. Irgendetwas ist da, das uns dünnhäutig macht und dafür sorgt, dass wir leichter weinen. Aus der Literatur kennen wir das Heimweh durch die berühmte Geschichte vom Heidi, welche aus ihrer Bergheimat versetzt nach Deutschland, nach Frankfurt am Main gekommen war. Ja, die kleine Heidi in Frankfurt, die hatte schrecklich Heimweh und bekam dabei sogar psychische Probleme, bis sie nachts im Schlaf herumgeisterte. Zum Thema Heimweh und Schweizer Söldner habe ich gelesen: «Einst war es tödlich, das Heimweh. Auffallend oft befiel es Schweizer Soldaten, die fern der Heimat ihren Dienst taten. Deswegen nannte man Heimweh bald die «Schweizer Krankheit». Heilen konnten sie auch Gelehrte nicht.» - Heimweh aber kann abgemildert werden, wenn die Gastländer den Fremden mit Freundlichkeit begegnen. Ja, wenn wir von der Kirche den Menschen auch ermöglichen, eine neue Heimat zu entdecken. Unser Asyltreff ist so ein kostbares Gefäss, wo Einheimische und Fremde einander wohlwollend begegnen. Letzte Woche habe ich einen Geflüchteten aus Afghanistan in drei Lektionen gelehrt, wie ein handgeschaltetes Auto zu bedienen ist. Er kann nämlich nächste Woche in einem Betrieb Probearbeiten und da ist es wichtig, dass er auch mit den handgeschalteten Firmenautos fahren kann… Ich habe dem schiitischen Moslem noch nicht viel von Jesus erzählt. Er weiss bloss, dass ich bei der Kirche arbeite und neben der Kirche mein Büro habe. Ich habe einfach versucht, das zu tun, was Jesus uns gelehrt hat: «Ich war fremd. Und ihr habt mich aufgenommen….»

Zum Schluss noch etwas zu den letzten zwei Versen in diesem so überaus dichten Psalmgebet. Da heisst es doch: «Tochter Babel, der Vernichtung geweiht, wohl dem, der dir die Untat heimzahlt, die du an uns getan hast. Wohl dem, der deine Kinder packt und am Felsen zerschmettert.» O Schreck, o Graus. Das tönt nicht besonders christlich! Wäre die Bibel nicht ein uraltes Kulturgut, die letzten zwei Verse von Psalm 137 müssten daraus gestrichen werden, wegen den Rachegedanken, ja wegen Aufruf zu Gewalt. Brigitte Fischer meinte, sie könne das nur mit einigem inneren Widerstand lesen: «Tochter Babel, der Vernichtung geweiht, wohl dem, der dir die Untat heimzahlt, die du an uns getan hast. Wohl dem, der deine Kinder packt und am Felsen zerschmettert.»

Liebe Flüchtlinge aus der Ukraine, wenn Ihr manchmal ganz, ganz harte Gedanken habt bezüglich der Soldaten, die in Euer Land eingefallen sind, wegen der Regierung in Moskau, die diese Soldaten ausrüstet und in Euer Land hetzt… Ja, wenn Ihr an Rache denkt, dann möchte ich Euch einfach sagen: Rachegedanken, sie sind manchmal heilsame Gedanken. Es gibt in der Bibel, im Heiligen Buch der Christen und der Juden darum gar nicht wenige sogenannte «Rachepsalmen». Hier der Psalm 137 tönen die Rachegedanken so: «Tochter Babel, der Vernichtung geweiht, wohl dem, der dir die Untat heimzahlt, die du an uns getan hast. Wohl dem, der deine Kinder packt und am Felsen zerschmettert.»
Auf die Länge muss man zum Frieden und zur Versöhnung zurückfinden. Aber zuerst müssen die Rachegedanken oft gedacht und einfach auch ausgesprochen werden. Ich selber lese mit viel Interesse Bücher von Leo Tostoi, dem grossen russischen Autor aus dem 19. Jahrhundert. Aber ich erwarte von niemandem aus der Ukraine, dass ihr jetzt russische Literatur liest. - Heimkehr und Wiederaufbau, Friede und Versöhnung, das sind grosse zukünftige Aufgaben, jetzt aber seid Ihr Geflüchtete und Gott schenke uns einen guten Weg miteinander und füreinander. AMEN.





Bremgarten, den 22. Juni 2025




Pfarrer
Ruedi Bertschi
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